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Nicole Biermaiers künstlerisches Arbeiten begann um 2000: Sie beschäftigte sich mit Fotografie, schuf fimische Bühnenbilder für verschiedene Theaterprojekte in Zusammenarbeit mit Susanne-Marie Wrage und Visuals für Performances mit der Band Superterz. Neben diesen Arbeiten, die sich im Kontext Theater und Musik bewegen, ist die Auseinandersetzung mit den Themen Macht und Manipulation im Werk von Nicole Biermaier sehr präsent: Anlässlich der Ausstellung Dialog03 — Festival für Bild & Musik in der Alten Kaserne in Winterthur zeigte sie 2003 die Arbeit MACHINERIE OPERA EROICA. Hier konnte der Besucher von einer Auswahl von Kriegsvideos, Anti-Kriegs-Hollywoodfilmen, gesampeltem Footage und Musikstücken mit einer VJ Software einen eigenen, neuen Filmclip zusammenschneiden und so ganz neue Inszenierungen und Kontexte schaffen. Im Kunsthaus Aarau zeigte sie 2005 die Installation INITIALIZE CONTROL — eine Auseinandersetzung mit sprachlicher Manipulation und Suggestion, in die die Besucher eingebunden und wurden sich aktiv beteiligen konnten. 2009 erschien der Dokumentarfilm

DACHKANTINE - WE MISS YOU SO MUCH!. der 2010 am Internationalen Documentary Filmfestival IDFA in Amsterdam im Program lief. 

Alexandra Blättler

Die Auseinandersetzung mit Fotografie, Theater, Film und Musik haben grossen Einfluss auf Nicole Bier- maiers künstlerische Arbeiten. Bildhafte Zugänge fliessen zum Beispiel in Texte ein, welche gesprochen für raumgreifende Installationen, übergeordnete Themen zu Macht und Gewalt darstellen.

Das selbstgeführte Interview mit einer Palästinenserin zum Beispiel, hat Nicole Biermaier in EIN GEDANKE AN AUFSTAND (Das Haus) neu interpretiert. Sie gibt ihre Erinnerung an die Erzählung der Frau, welche Versucht hat, in ihr Herkunftsland einzureisen, wieder. Die detaillierten Beschreibungen über die Geborgenheit des Zuhauses funktionieren als Kontrast zur bedrückten Grundstimmung des Gesprächs. Die Besucherin oder der Besu- cher befindet sich in einer Bühnenbildähnlichen Installation. Dabei funktioniert die Installation als Raum, der nicht genau verortet ist. 

Susanne König

Anders als diese Arbeit, die durch biografisches Erzählen entwickelte Gefühle von Heimat oder nationaler Zugehörigkeit aufgreift, zielt die mit der Arbeit VOR DEM GROSSEN AUFTRITT begonnene Werkserie auf die Sprache als Medium der Manipulation und der Macht. Diese raumgreifende Installation schafft erneut eine ebenso dichte wie bühnenhafte Szenerie. Die drei auf Sockeln präsentierten Büsten und die grossfor- matigen Drucke geschundener menschlicher Körper sind durch eine Stimme aus dem Off überlagert, die zum Kampf gegen eine imperialistische Macht aufruft. Für die Ausstellung im Kunsthaus Baselland setzt Nicole Biermaier ihre Recherchen zur Sprache als Mittel der (Massen-)Manipulation fort und entwickelt im An- schluss an die Arbeit von 2010 die Installation NACH DEM GROSSEN AUFTRITT. Ein bearbeitetes Videostill von einer Massenparade generiert eine Art von ornamentalem Muster, Markierungen am Boden verweisen auf die mögliche Position eines Rednerpultes und eines Publikumsbereiches und schaffen so ein bühnenar- tiges Environment. Die aus dem Off erklingende Stimme blickt nun auf den Kampf, auf den Auftritt zurück, der jedoch eine Leerstelle bleibt und nur vage erahnt werden kann. Die Sogwirkung der Sprache wird auch in dieser Neuinterpretation des Themenkomplexes offenbar. Verweist doch NACH DEM GROSSEN AUFTRITT auf eine mehr denn je präsente politische Rhetorik, die sich gerade im Kontext staatlicher Überwachungs- tendenzen zusehends in euphemistischen Worthülsen vertrickt. 

Gioia Dal Molin

Die Sprache als konstitutives Mittel in Prozessen der Subjektivierung oder in der Konstruktion von Macht- und Herrschaftsansprüchen interessiert Nicole Biermaier. Während beispielsweise die 2011 entwickelte Arbeit EIN GEDANKE AN WIDERSTAND (Das Hinterzimmer) eine mittels fiktiven Interviews konzipierte, sprachli- che Annäherung an die vage, mitunter konstruierte Biografie des Grossvaters der Künstlerin darstellt, greift sie in der Folge in EIN BILD VOM WEGSEHEN das Thema erneut auf. In dieser Arbeit sieht sie die Vertie- fung in die persönliche Familiengeschichte als Geste der Aufschliessung: Sie dient dazu die Umstände des Öffentlichen und Politischen einer vergangenen Zeit zu rekonstruieren und reflektieren. Nicole Biermaier nutzt die Erinnerung an die Geschichte ihres Grossvaters, um sich mit den historischen Ereignissen des Nationalsozialismus auseinanderzusetzen. Sie greift mit dieser Arbeit mittels Interviews und Archivarbeit aktiv in die aktuelle Debatte der Verknüpfung zwischen Kunst, Geschichte und Geschichtsschreibung ein. So zum Beispiel interessiert sich Nicole Biermaier IN EIN BILD VOM WEGSEHEN für den Aspekt der Mythen- bildung in der mündlich transportierten Geschichtsschreibung. Über den Audiotext thematisiert sie die Frage nach dem Wahrheitsgehalt und dem Glaubens- und Manipulationspotential von mündlicher Überlieferung. Mit dem zugehörigen Bild «Im flachen Land» fügt sie ausserdem eine Metaebene ein, die zum Nachdenken über den Begriff des Dokumentarischen anregen soll. Ob sich aus diesen Übersetzungen eine persönliche Vergangenheit zusammensetzen lässt bleibt offen: Handelt es sich nicht doch lediglich um eine konstruierte Wirklichkeit, eine Fiktion? An diesem Punkt stossen wir wieder auf ein von Hito Steyerl ans Licht gebrachtes Paradox: «Der Zweifel an ihren Wahrheitsansprüchen macht dokumentarische Bilder nicht schwächer son- dern stärker». 

Irene Gillo

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